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  • AutorenbildAnnina Safran

Leseprobe zu Band 1 der Saga von Eldrid - Der Spiegelwächter



PROLOG

Hatte sie gerade ein Klirren gehört? Das konnte nicht sein! Ludmilla hob den Kopf und sah sich um. Sie hockte auf dem Waldboden und hatte das Treiben eines wundersamen Völkchens beobachtet. Abertausende winzig kleine Wesen, nicht größer als Stecknadelköpfe, die aussahen wie schillernd bunte Schmetterlinge, waren organisiert wie Ameisen. Dabei benutzten sie jedoch nicht ihre Flügel, sondern spazierten aufrecht und stolz auf dem Waldboden umher und streckten ihre kleinen, menschlich anmutenden Köpfe mit spitzen langen Nasen in die Luft. Das war verwunderlich, amüsant und faszinierend zugleich. Nun aber war Ludmilla abgelenkt und stand langsam auf. Woher kam dieses Geräusch? Es hatte sich genauso angehört, als wäre ein Glas auf einen harten Boden gefallen und in tausend kleine Teilchen zersplittert.

Gerade als sie sich fragte, ob sie es sich vielleicht eingebildet hatte, hörte sie wieder etwas: Ganz entfernt meinte sie, ein Knirschen wahrzunehmen. So als liefe jemand über Scherben. Ludmilla drehte sich stirnrunzelnd und alarmiert im Kreis. Sie hatte bereits viele merkwürdige Dinge in diesem Wald entdeckt und noch mehr unbekannte Geräusche gehört. Aber diese gehörten einfach nicht hierher. Jedoch alles, was sie sah, waren uralte, riesenartige Bäume, deren Kronen sich berührten, als würden sie sich umarmen, leuchtend grüne Sträucher und Büsche in den unterschiedlichsten Facetten und den mit Moos bedeckten Waldboden. Ludmilla schüttelte ungläubig den Kopf. Und dennoch war sie sich sicher: Sie hatte sich nicht geirrt. Irgendwoher mussten diese Geräusche kommen. Ein winziger regenbogenfarbiger Vogel, nicht größer als Ludmillas Daumen, flatterte um sie herum und setzte sich auf ihren Arm. Ludmilla lächelte ihn voller Bewunderung an. Für einen kurzen Augenblick ließ sie

sich ablenken, aber dann besann sie sich. »Ich habe leider keine Zeit mehr«, flüsterte sie dem Vogel zu und verscheuchte ihn mit einer sanften Handbewegung. Sie hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musste zurück! Erst langsam, dann immer schneller ging sie den Waldweg entlang. Zwischendurch blieb sie stehen und horchte. Es war nichts mehr zu hören. Dennoch wurde sie immer unruhiger. Sie war schon viel zu lang in dieser Welt gewesen. Sie musste nach Hause. Endlich! Vor ihr wurde der Wald lichter, und sie konnte den Wasserfall hören. Die Höhle war nicht mehr weit. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Sie war allein. Vorsichtig schlich sie den Höhleneingang entlang und spähte um die Ecke. Die Höhle war leer. Ludmilla atmete erleichtert auf. »Zum Glück! Uri ist nicht da!« Bei dem Namen »Uri« verdrehte sie genervt die Augen. Hastig durchquerte sie den Raum und lief zu dem Spiegel, der in der hintersten Ecke im Dunklen stand.

Er leuchtete nicht. Jetzt nur nicht die Geduld verlieren! Ludmilla atmete tief durch und berührte den Spiegel. Wie wunderschön er war! Ganz vorsichtig strich sie mit den Fingern über die Verzierungen. Aber er begann nicht zu leuchten. Ludmillas Herz begann zu rasen. Sie musste zurück. Sie wollte zurück. Immer wieder berührte sie den Spiegel. Vorsichtig und sacht. »Oh, bitte, bitte, bitte«, murmelte sie vor sich hin und strich sich eine lange, rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Da hörte sie ein dumpfes Geräusch. So als würde jemand gegen einen harten Gegenstand laufen. Ludmilla fuhr herum. Hier musste doch jemand sein. Aber die Höhle war leer. Sie kniff ihre hellen blauen Augen zusammen. »Hallo?«, rief sie laut und fordernd. Wie ein Echo vernahm sie ein boshaftes Kichern. Ludmillas Herz blieb vor Schreck fast stehen. Sie drehte sich im Kreis, konnte aber niemanden entdecken. Also ging sie wieder tiefer in die Höhle hinein. »Hallo!«, rief sie ungeduldig. »Ist hier jemand?« Sie suchte die Feuerstelle und die Wände ab. Vielleicht ein kleines Wesen, das sie bisher nicht bemerkt hatte? Aber sie konnte nichts entdecken. Irgendetwas stimmte hier nicht. Hilflos sah sie zum Spiegel. Der Spiegel antwortete ihr mit seinem Leuchten. Erleichtert atmete Ludmilla auf. »Na also, geht doch!«, sagte sie leicht überheblich, während sie auf den Spiegel zulief. »Und das hier muss dann wohl bis zum nächsten Mal warten!«, rief sie laut in die Höhle hinein, als erwartete sie, dass jemand antwortete. Der Spiegel verschluckte Ludmilla, und in der nächsten Sekunde stolperte sie in das Zimmer. Sie hatte Mühe, sich abzufangen. Gerade noch rechtzeitig ergriff sie den nächststehenden Sessel und verhinderte so einen Sturz. »Puh«, sagte sie leise und atmete schwer auf. Nach der Reise durch den Spiegel war ihr immer etwas übel. Sie stützte sich auf den Sessel, dann sah sie es aus den Augenwinkeln. Die Zimmertür stand sperrangelweit offen! Sie hatte sie aber geschlossen, bevor sie durch den Spiegel gereist war. Ludmilla riss den Kopf herum. Also stimmte hier etwas nicht! Diese Geräusche kamen aus dieser Welt! Aber wie war das möglich? Durch den Spiegel? Das war neu. »Mina?«, rief Ludmilla zaghaft. Vorsichtig steckte sie ihren Kopf aus dem Zimmer. Der Flur war dunkel. Keine Spur von ihrer Großmutter. Erleichtert atmete sie auf. Das war nicht das erste Mal, dass sie dachte, dass ihre Großmutter sie erwischt hätte. Unwillig schüttelte sie den Kopf, als wolle sie diesen Gedanken abschütteln, und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er leuchtete noch immer, und sein Leuchten erfasste einen kleinen Teil des Raumes. Ludmilla sah sich im Spiegel an. Sein Glas hatte ein paar rostige Stellen, dennoch konnte sie sich darin gut sehen. Ihre langen, dunkelroten Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie strich sie zur Seite und betrachtete sich für einen Augenblick. Aus ihrem länglichen blassen Gesicht stachen hellblaue Augen hervor, die von dicken dunkelroten Augenbrauen eingerahmt wurden. Die prägnante Augenpartie überspielte die etwas zu große Nase, die Ludmilla kritisch betrachtete. Ihre schmalen, rosa Lippen presste sie aufeinander. Und gerade, als die Anspannung ein wenig wich, grinste ihr Spiegelbild sie an. Ludmilla zuckte zusammen. Das konnte einfach nicht sein. Sie grinste nicht! Aber dieses Mädchen in dem Spiegel grinste, und zwar fies. Ungläubig fasste sich Ludmilla ins Gesicht. Ihr Mund war vor Erstaunen leicht geöffnet. Aber sie grinste nicht! Nur ihr Spiegelbild tat es. Ihr Herz fing an zu rasen. Sie machte einen Schritt auf den Spiegel zu, doch da erlosch das Leuchten. In dem Zimmer wurde es schlagartig stockdunkel. Ludmilla konnte kaum etwas sehen, am wenigsten konnte sie ihr Spiegelbild erkennen. Es war alles so schnell gegangen. Sie musste sich geirrt haben. »Das geht doch gar nicht, Ludmilla!«, flüsterte sie sich selbst zu und schüttelte den Kopf. Doch so sicher war sie sich da nicht. Schließlich hatte sie es mit einem magischen Spiegel zu tun, der das Portal in eine andere Welt war. Sie hatte sich bisher nur keine Gedanken darüber gemacht, wie sich das auf ihre Welt auswirkte, dass sie den Spiegel benutzte. Langsam und in Gedanken versunken lief sie zur Tür. Da knirschte es unter ihren Füßen. Verwundert trat sie einen Schritt zurück. Das Licht vom Flur fiel auf den Boden, auf dem eine zerbrochene Vase lag. Sie hatte zuvor auf dem Tisch gegenüber dem Spiegel gestanden. Ludmilla schlug sich die Hand auf den Mund und riss die Augen auf. Sie atmete schwer durch ihre Hand. Hastig sah sie sich erneut im Zimmer um. Nichts rührte sich. Unschlüssig blieb sie stehen. Was hatte das alles zu bedeuten? Und viel wichtiger: Wer hatte die Vase zerbrochen? Als Ludmilla die Tür zu dem Zimmer schloss und auf Zehenspitzen den Flur entlangschlich, hatte sie eine Entscheidung getroffen: Sie würde sich mit Uri treffen müssen. Zwar war er ihr nicht geheuer, aber vielleicht konnte er ihr erklären, was hier vor sich ging. Schließlich war er der Wächter dieses Spiegels, der Spiegelwächter.

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