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  • AutorenbildAnnina Safran

Kurzgeschichte aus dem Jahr 2010: Begegnung am Strand

Aktualisiert: 26. Jan. 2019


Es ist Urlaubszeit. Unser Ziel: die italienische Riviera. Neben der wundervollen Landschaft in der Toskana, zieht es uns natürlich auch an den Strand. Ziemlich am Anfang unseres Urlaubs, kommen wir erst um die Mittagszeit an den Strand. Es ist ein „freier“ Strand, das heißt, dass es keine Sonnenschirme und Liegestühle zu mieten gibt, jeder bringt sein Sonnenschutzequipment selbst mit. Viele Schirme sind zusammengeklappt. Daneben stehen ebenfalls zusammengeklappte Liegestühle, die signalisieren sollen, dass die Eigentümer zurückkommen. Wir spannen unseren Schirm auf und setzen uns auf unsere Handtücher. Ich beobachte den Strand und das Meer. Das beste Entspannungskonzept für meine Begriffe.

Ein paar Meter von uns entfernt, näher am Wasser, sitzt ein älteres Ehepaar mit ihren Liegestühlen und ihrem Sonnenschirm. Ich schätze beide auf Anfang 60. Er hat es sich im Liegestuhl im Schatten des Schirmes bequem gemacht und starrt auf das Meer, während sie sich auf einem Handtuch im Sand sonnt und liest. Sie tragen beide komplett schwarz. Schwarzes T-Shirt, schwarze Badeshorts bzw. sie einen schwarzen Badeanzug und auch die Schuhe sind schwarz. Und das im Hochsommer. Er sieht gepflegt aus, weißes volles Haar, Kurzhaarschnitt, leicht gebräunt, kleines Bäuchlein, ansonsten recht drahtige Figur. Seine Frau, vermutlich, ist etwas jünger als er, hat kürzere dunkle Haare, ist braun gebrannt und hat eine etwas üppigere Figur. Auch sie wirkt sehr gepflegt.

Gerade nachdem mir das Ehepaar aufgefallen ist, steigt ein Mann aus den Wellen. Er ist schätzungsweise Mitte 50, hat ein äußerst knappes rotes Badehöschen an, ist braun gebrannt, groß und schlaksig. Mehrere Tätowierungen bedecken seinen Körper. Eine davon direkt über dem Lendenknochen. Es ist eine kleinere Tätowierung und hat die Form einer Insel oder einer Inselgruppe. Das nächste Tattoo, das auffällt, ist auf der Schulter, oberhalb der Brust. Auch dieses Motiv ist klein und auf die Entfernung nicht deutlich zu erkennen. Der Mann steuert genau auf uns zu und bleibt dann vor dem Ehepaar stehen, das fast direkt vor uns liegt. Schon einige Meter entfernt fängt er an, wild zu gestikulieren, laut zu reden und zu lachen. Die beiden reagieren amüsiert. Italiener. Er dreht uns den Rücken zu, während er sich mit einem winzigen rosa Handtuch abtrocknet. Auf dem Rücken, oberhalb des Gesäßes, befindet sich eine große Tätowierung. Sie sieht aus wie ein Baum, mit Blumen und Ästen und jede Menge Symbolen. Der Mann zieht sich, sich mit einem weiteren winzigen Handtuch bedeckend, aber wenigstens in liegender Position, die knappe rote Badehose aus und ersetzt sie durch eine nicht minder knappe Badehose in Gelb. Laut gestikulierend unterhält er seine Freunde, während er sich umzieht. Sein schon schütteres längeres Haar, das ihm bis zu den Schultern reicht, kämt er schließlich mit einem lila Kamm, der so aussieht, als hätte er ihn sich von seiner Enkeltochter geliehen. Schließlich bindet er sie zu einem Zopf zusammen, soweit dies mit den dünnen Strähnchen überhaupt möglich ist. Er wirkt fröhlich und ausgelassen, vielleicht ein wenig überdreht. Seine Freunde lächeln die meiste Zeit amüsiert, oder vielleicht doch nur höflich? Die Situation wirkt etwas verkrampft, was vielleicht auch daran liegt, dass der Mann aus dem Wasser ununterbrochen redet, die Frau ihn kaum beachtet und der Mann ihn schweigend mustert und dabei kaum eine Miene verzieht. Selten reagiert oder antwortet er auf den Redefluss des Mannes in der gelben Badehose.

Ich denke mir: was wenn dieser Typ bei der Mafia ist und gerade mit Freunden Urlaub macht, die ihn aber eigentlich gar nicht dabei haben wollen, weil sie insgeheim Angst vor ihm haben? Die Tätowierungen, die etwas skurrile Zusammenstellung des Strandequipments, das kommt mir alles sehr merkwürdig vor.

Noch während meine Fantasie mit mir durchgeht, fängt das Ehepaar an, ihre Sachen zusammen zu packen. Siesta. Ihr Begleiter tut es ihnen gleich. Immer noch wild gestikulierend packt er seine Sachen zusammen, seine Freunde warten geduldig – höflich. Schließlich gehen die drei von dannen.

Am nächsten Tag ist das Paar wieder am Strand, jedoch ohne Begleitung. Auch die nächsten Tage sind sie allein am Strand, es scheint ein einmaliger Besuch gewesen zu sein. Sie haben jeden Tag dieselbe Routine. Er sitzt im Liegestuhl und starrt auf das Meer, während sie in der Sonne liegt, sich sonnt und dabei liest oder schläft. Sie wirken einträchtig und zufrieden. Zur Siestazeit lassen sie ihr Equipment am Strand zurück und kommen am späten Nachmittag zurück. Er bringt nie etwas zu lesen mit, beobachtet die Leute und spricht kaum. Mir fällt auf, dass er eine schwarze Sporttasche stets in Griffnähe hat und diese nie aus den Augen lässt. Allerdings greift er auch nie hinein. Sie wird nie geöffnet. Handtücher, Sonnencreme und das Buch der Ehefrau werden in einen mitgebrachten Korb verstaut.

Akribisch genau beobachtet er den ganzen Tag die Menschen, die in seinem Umkreis liegen, die vorbeispazieren, die schwimmen. Fast misstrauisch beäugt er jeden, der sich ihnen auch nur nähert. Seine Frau interessiert sich nicht für das Treiben ihres Mannes. Auch er ist tätowiert, jedoch nicht in dem Ausmaß wie sein Besucher mit den knappen Badehöschen. Die Tätowierung ist recht "dezent" auf den Unterarm gesetzt und von nicht besonderer Größe.

Wieder galoppiert meine Fantasie mit mir davon: Was wenn nicht der Besucher, sondern er der Mafiosi ist? Ein Capo, der gesucht wird, allerdings im Süden des Landes. Er ist in den Norden geflüchtet, wo er sich, nach Jahren des Versteckens, nun wieder in die Öffentlichkeit traut. Sein Besucher war ein alter Bekannter aus dem Süden, ein kleiner Fisch unter den Mafiosis, der ihn mit Informationen und Geld aus der Familie versorgt. Seine Frau ahnt von all dem nichts. Er hat ihr erzählt, dass er wegen einer Krankheit jahrelang dieses Kuratorium im Norden besuchen musste. Sie besuchte ihn regelmäßig, wollte aber die Familie nicht zurücklassen. Nun sind die Kinder groß und aus dem Haus und er konnte sie dazu überreden, hier zu wohnen. Am Meer. Den Ruhestand genießen. Für eine gute Rente habe es allemal gereicht und so willigte sie ein. Die Tage am Strand sind der Auftakt ihres neuen gemeinsamen Lebens im Norden des Landes.

Als wir wieder zu Hause sind, gehen mir diese Menschen nicht aus dem Kopf und ich recherchiere im Internet nach gesuchten Mafiosi. Keine Treffer, was die Personen am Strand betrifft. Nur einen Hinweis entdecke ich, der mich erschaudern lässt: es gibt einen bestimmten Teil einer Mafiafamilie, die sich die sizilianische Inselgruppe in die Lendennähe tätowieren lässt. Als Zeichen der Zugehörigkeit.

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